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Warum die Diplomatie der Europäischen Union praktisch dysfunktional ist

Die Vertreter der westeuropäischen Allianz versuchen nicht mal mehr, diejenigen zu verstehen, die anderer Meinung sind, sondern halten Standpauken, die von Arroganz triefen. Man muss den tragischen Fehler erkennen, dass Diplomatie durch politische Belehrungen ersetzt wurde.
Warum die Diplomatie der Europäischen Union praktisch dysfunktional istQuelle: Gettyimages.ru

Von Timofei W. Bordatschow

Ein aktueller Vorfall, bei dem Botschafter aus EU-Staaten in Moskau sich weigerten, an einem Treffen mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow teilzunehmen, bringt den heutigen Zustand der europäischen Diplomatiekultur perfekt auf den Punkt. Der Grund dafür ist einfach zu erklären: In den vergangenen 30 Jahren ist das Bedürfnis, im herkömmlichen Sinne diplomatisch aktiv zu sein, fast vollständig verschwunden.

Obwohl die Gesandten der EU-Staaten in Moskau relativ gebildet und in der Regel nicht dumm sind, zählen heutzutage diese individuellen Besonderheiten nicht mehr viel. Praktisch alles wird von einer dogmatischen Weltanschauung bestimmt und ist zum Gegenteil dessen geworden, was für zivilisierte zwischenstaatliche Beziehungen notwendig wäre.

Diejenigen unter den Beobachtern des Geschehens, die sich fragen, warum in der heutigen Welt jeder EU-Staat noch seinen eigenen Botschafter nach Moskau entsendet, haben ein berechtigtes Argument. Schließlich entscheiden die Gesandten eigentlich über gar nichts und können ihre Pflichten nicht in der traditionell akzeptierten diplomatischen Weise erfüllen. Es wäre für alle Beteiligten eine Entspannung, wenn diese großartigen und auch weniger großartigen Menschen für eine Weile in ihre Heimatländer zurückkehren würden.

Es gibt mehrere Gründe, warum sich die Westeuropäer bisher auf den Weg in ihre eigene, andere Welt gewagt haben. Erstens erlebten sie vor etwas mehr als 30 Jahren einen gewaltigen Umbruch auf dem Kontinent. Seit dem 16. Jahrhundert waren alle diese Staaten auf dem Kontinent Nachbarstaaten Russlands, das nicht besiegt werden konnte.

Dominic Lieven, ein hervorragender britischer Gelehrter, der die Ursprünge des Russischen Reiches studiert hat, schrieb einst, dass die Russen die einzigen Menschen seien, mit denen die Westeuropäer zu tun hätten, die in der Lage seien, in der modernen Welt mit grenzenlosem Mut, Ausdauer, Selbstbewusstsein und Selbstaufopferung für ihren besonderen und unabhängigen Platz im globalen System zu kämpfen. Man bedenke diese Worte: Russland ist die einzige Zivilisation, gegen die der Westen stets versucht hat, aggressiv vorzugehen, bei der er es aber nie geschafft hat, seine Ziele zu erreichen. Alle anderen großen Kulturen – China, das Reich der Mitte, die uralte Zivilisation Indiens und viele andere – konnten einem entschiedenen Vorstoß des Westens nicht standhalten, der 500 Jahre lang die Grenzen seiner Machtsphäre mit Feuer und Schwert auszuweiten vermochte. Sie wurden vom Westen in die Knie gezwungen, auch wenn es manchen nach einiger Zeit gelang, ihre Eigenstaatlichkeit wiederherzustellen. Russland hingegen ist noch nie besiegt worden.

Aber versuchen wir uns für einen Moment in die Lage der Westeuropäer zu versetzen und ihre emotionale Verfassung zu verstehen. Seit Jahrhunderten leben sie mit einem Trauma namens "ein unabhängiges Russland". Allerdings hatte Russland selbst nie die Gelegenheit zu verstehen, wie es sich anfühlt, einem ständigen Feind gegenüberzustehen, der niemals besiegt werden kann.

Als die UdSSR 1991 implodierte und der Unionsstaat auseinanderbrach, befand sich Westeuropa in einer noch nie dagewesenen Situation. Über Nacht ging der unerfüllte Wunsch von Generationen europäischer Politiker und Militärstrategen in Erfüllung. Einfach so, ohne entscheidende militärische Auseinandersetzung und mit dem Wunsch der Russen, sich als Juniorpartner der "europäischen Familie" anzuschließen. Ein solches Ereignis konnte nicht ohne schwerwiegende Folgen für die Psyche der Staatsmänner und der einfachen Bürger dieser westeuropäischen Staaten bleiben.

Die gesamte außenpolitische Kultur Westeuropas basierte auf der Tatsache, dass Russland niemals herumgeschubst werden kann oder dass es gesagt bekommt, was es zu tun hat. Aber plötzlich hatte der Westen das Gefühl, den Kalten Krieg gewonnen zu haben, ohne dass ein einziger Schuss fiel. In einem Zustand fantastischer emotionaler Umwälzung, begannen die Westeuropäer Beziehungen zu Russland aufzubauen, so als ob das Land endgültig besiegt wäre. Mehrere Jahre lang akzeptierte Moskau die vom Westen diktierten Spielregeln. Man berücksichtigte die Wünsche der Westeuropäer im wirtschaftlichen Bereich und entwickelte die Außenbeziehungen im Hinblick darauf, wie sich dies auf das Hauptziel – die schrittweise "Integration" in die EU – auswirken würde.

Unter diesen neuen Umständen befand sich die Europäische Union in der Position eines anspruchsvollen Lehrers, der zahlreiche "Partnerschafts-Programme" mit zwei einfachen Absichten anbot: Erstens, um die Interessen der westeuropäischen Wirtschaft zu wahren und den russischen Markt für diese noch offener zu machen. Zweitens, um sicherzustellen, dass Moskau den Anweisungen aus Brüssel Folge leistet.

Gleichermaßen wurden europäische Diplomaten zu anspruchsvollen Lehrern. Für mehrere Generationen von EU-Botschaftern in Moskau bestand die Hauptaufgabe darin, zu überwachen, wie gut Russland seinen zahlreichen Verpflichtungen nachkommt. Im Rahmen dieser "ehrenwerten" Mission hat sich eine Tradition der Kommunikation mit Russen auf verschiedenen Ebenen entwickelt. Während es Gespräche auf der Ebene der Staatsoberhäupter oder Außenminister gab, gab es unterhalb dieser Ebene keinerlei Ansatz von klassischer Diplomatie mehr. Die Botschafter der EU wurden nicht einfach zu Vollstreckern des Willens der Dienstherren ihrer Heimatländern – was völlig normal wäre – sie wurden nach und nach zu technischen Mitarbeitern, denen die Aufgabe übertragen wurde, Russland zu beobachten und auf Fehler in seinem Verhalten hinzuweisen.

Zudem wurde das Niveau ihrer intellektuellen Fähigkeiten nicht mehr an der Fähigkeit gemessen, ein subtiles diplomatisches Spiel zu spielen. Der Hauptindikator war der Grad der Hysterie, mit der diese Diplomaten eine sehr einfache Agenda durchsetzen konnten. Dies umso mehr, als der individuelle Wille und die Intelligenz dieser Diplomaten zunehmend in das von der NATO und der EU diktierte Regel- und Anforderungssystem integriert wurde.

Wie ein Philosoph im vergangenen Jahrhundert schrieb:

"In jedem Kollektiv wird die individuelle Handlungsfähigkeit zum Diener des kollektiven Interesses."

Nach und nach, sollten wir hinzufügen, verschwindet die individuelle Handlungsfähigkeit – was überhaupt ein Zeichen von Entscheidungsfreiheit ist – und damit die Fähigkeit, eine Situation unabhängig zu analysieren und Entscheidungen zu treffen. Dieses Problem ist für die westeuropäische Diplomatie und Politik so umfassend geworden, dass es allmählich nicht mehr wahrgenommen wird. Dies umso mehr, als sich auch die europäische Politik zunehmend verändert. Nachdem sich die Westeuropäer plötzlich und unerwartet in der Position der "Gewinner des Kalten Krieges" befanden, verspürten sie ein tiefgreifendes Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber der gesamten Welt. Außer natürlich gegenüber den USA, vor denen sie einfach Angst haben.

Man konnte immer wieder Beispiele dafür sehen, wie sich die Europäische Union in die inneren Angelegenheiten großer Staaten wie China oder des immer noch sehr freundlich gesinnten Indiens einmischte. Ganz zu schweigen von Staaten geringerer Größe und Bedeutung. Vergangenes Jahr hielt der französische Präsident Emmanuel Macron Brasilien eine Standpauke, wegen des Umgangs des Landes mit seinen Regenwäldern. Fairerweise muss man sagen, dass ein Teil des Problems darin besteht, dass andere Länder schon seit langem nicht mehr bereit sind, diese Westeuropäer auf die Unzulänglichkeiten ihres Verhaltens aufmerksam zu machen. Als Teilnehmer an der globalen Diplomatie ist die EU sehr weit auf einem Weg vorgeschritten, von dem aus es keine Rückkehr zur Realität mehr gibt.

Es stellt sich jedoch die berechtigte Frage: Warum kümmert es Russland überhaupt, dass seine westlichen Nachbarn zunehmend ihre Fähigkeit verlieren, sich an die Welt um sie herum anzupassen? Auch wenn die aktuelle politisch-militärische Krise vorübergehend mit einer Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zu den EU-Ländern einhergeht, könnte es für Russland immer noch von Nutzen sein, die Gründe dafür zu verstehen.

Erstens: Wenn wir tragische Szenarien ausschließen, wird die EU bis auf Weiteres Russlands Nachbar bleiben und Russland muss den diplomatischen Dialog mit der Union wieder aufnehmen. Selbst wenn wir die Tatsache berücksichtigen, dass der Hauptgrund für die Unzulänglichkeit Westeuropas grundlegender Natur ist – das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der UdSSR –, hätte Russland schon viel früher anspruchsvoller mit ihr umgehen müssen. Zum Wohle der EU und zum Wohle Russlands. Daher ist es notwendig zu verstehen, wo die EU ihre großen Schwächen hat, die sie an einer normalen diplomatischen Interaktion hindern.

Zweitens muss man den tragischen Fehler erkennen, dass Diplomatie durch politische Belehrungen ersetzt wurde. Während Russland Beziehungen zum globalen Süden und zu seinen Nachbarstaaten im post-sowjetischen Raum aufbaut, ist es sinnvoll, besonders wachsam zu sein und sicherzustellen, dass Russland selbst nicht auch Anzeichen europäischer Arroganz an den Tag legt.

Ersterscheinung in der Wsgljad. Übersetzt aus dem Englischen.

Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.

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