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Die "wilden Felder": Seit wann haben die Ukrainer Anspruch auf den Staat, den sie bis jetzt hatten?

Dies ist die Geschichte der Verwandlung eines winzigen Gebiets, das von Saporoger Kosaken besiedelt war, in das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas, größer als Frankreich oder Deutschland. Wie hat die Ukraine eine Expansion dieser Größenordnung ohne eine einzige Eroberung geschafft?
Die "wilden Felder": Seit wann haben die Ukrainer Anspruch auf den Staat, den sie bis jetzt hatten?Quelle: AFP © Andre Pain

Eine Analyse von Alexander G. Markowskij

Der Ausgangspunkt der Geschichte der Ukraine liegt im Jahr 1654, als Bohdan Chmelnizkij, ein Hetman der Saporoger Heerschar und Anführer der jenseits der Stromschnellen des Dnjepr lebenden Kosaken, dem russischen Zaren Alexei I. eine Petition zukommen ließ und ihn ersuchte, das Saporoger Hetmanat ins russische Reich aufzunehmen. Das von den Kosaken bewohnte Land – der orangefarbene Bereich auf der Landkarte im Bild unten – war Teil dessen, was die Russen die Wilden Felder oder "u kraine" nannten, was auf Russisch "am Rande" oder "an der Grenze" bedeutet. Der Begriff entstand im 12. Jahrhundert, um jene Gebiete zu bezeichnen, die von halbwilden Stämmen am Rande Russlands bevölkert wurden.

Chmelnizkij wollte seine Kosaken unbedingt vor der Vernichtung durch die Polen retten. Zunächst lehnte Alexei das Ansinnen ab. Aber schließlich wurde der Petition stattgegeben und es kam zum Vertrag von Perejaslaw. Gemäß diesem Vertrag sollte das Gebiet in den russischen Staat integriert werden, den Namen Malorossija – oder Kleinrussland – tragen und vom Hetmanat mit begrenzter Autonomie verwaltet werden.

Während der Regierungszeit von Katharina der Großen (1762 bis 1796) erlebte das Russische Reich eine massive Expansion und Malorossija wurde um etliche neue Gebiete erweitert, darunter die Stadt Kiew, wo im 8. Jahrhundert das Land der Rus ihren Ursprung genommen hatte – auf der Karte die gelben und orangefarbenen Gebiete. 1764, als Malorossija in seiner Ausdehnung zugenommen hatte, schaffte Katharina aus administrativen Gründen das Hetmanat ab und schuf das Gouvernement von Malorossija. Im selben Jahr eroberte das Russische Reich das Krim-Khanat und gründete eine neue Provinz, Noworossija – oder Neurussland – der blaue Bereich auf der Karte. In relativ kurzer Zeit verwandelte Russland die Region von einer unerschlossenen Steppe mit unendlichen Weiden in eine mächtige Landwirtschaftszone und später in ein Industriezentrum, das zum Rückgrat der Wirtschaft des Russischen Reiches und später der Sowjetunion wurde.

Im Jahr 1783 entriss Zarin Katharina dem Osmanischen Reich die Krim in einem blutigen Krieg, sicherte sich damit den Zugang zum Schwarzen Meer und vervollständigte so die Vision Peters des Großen, das Russische Reich zur dominierenden europäischen Macht zu machen.

Zwei Jahre nach der bolschewistischen Revolution, im Jahr 1919, wurde Wladimir Lenin zum Architekten der Ukraine, indem er Noworossija und Malorossija zum sozialistischen Staat Ukraine zusammenfasste – die gelben, blauen und orangefarbenen Gebiete auf der Karte. 1922 wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet und der Sozialistische Staat Ukraine neu als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik mit der Hauptstadt Charkow gebildet und in die UdSSR eingegliedert. Noworossija wurde in Ostukraine umbenannt und der Begriff Malorossija wurde nicht mehr verwendet. 1934 wurde Kiew zur Hauptstadt der neuen Sowjetrepublik.

Zwischen 1939 und 1940 annektierte Stalin infolge des deutsch-sowjetischen Paktes die westlichen Gebiete der Ukraine, einschließlich der polnischen Stadt Lemberg und der nördlichen Bukowina von Rumänien. 1945 annektierte Stalin das ungarische Ruthenien im Gebiet der Karpaten, das heute Transkarpatien heißt. Alle diese Gebiete wurden mit der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik verschmolzen und als Westukraine bekannt – der grüne Bereich auf der Karte.

Bis 1950 übertraf die Größe des Territoriums der Ukraine die aller anderen Länder in Europa – außer jene von Russland. Aber damit endeten die territorialen Zuteilungen an die Ukraine nicht. 1954 übertrug Nikita Chruschtschow die Krim von der Russischen Föderation an die Ukraine. Diese Statusänderung war hauptsächlich symbolischer und administrativer Natur, da die Übertragung innerhalb der Sowjetunion stattfand, die durch eine einheitliche Verfassung, eine gemeinsame Verteidigung und einen vollständigen Moskauer Zentralismus zusammengehalten und regiert wurde. Niemand im Kreml konnte vorhersehen, dass sich dies einige Jahrzehnte später als unvorstellbarer strategischer Fehler manifestieren würde.

Die historischen Aufzeichnungen zeigen, dass die heutige Ukraine aus einem Mosaik von Gebieten hervorgegangen ist, die durch russische Eroberungen entstanden und mit russischem Blut und russischem Staatsvermögen bezahlt wurden. Abgesehen von einem kleinen Gebiet des Saporoger Hetmanats – der orangefarbene Bereich auf der Karte – hat die Ukraine keine historische Verbindung zu dem Gebiet, das sie heute besetzt und ist das Produkt russischer und sowjetischer geopolitischen Entscheidungen. Diese Vorgeschichte ist der Grund, warum Henry Kissinger einst festhielt: "Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals bloß ein fremdes Land sein kann."

Wenn die USA sich der ukrainischen Geschichte bewusster gewesen wären, hätten sie berechtigte Zweifel an der Gültigkeit der territorialen Ansprüche der Ukraine geäußert. Konrad Adenauer hat einmal gesagt: "Geschichte ist die Summe der Dinge, die hätten vermieden werden können", und es könnte nichts Treffenderes über das Dilemma rund um die Ukraine gesagt werden. Hätte Zar Alexei 1654 die Kosaken des Saporoger Heeres, die Vorläufer der Ukrainer, nicht vor der Vernichtung bewahrt, hätten wir nie von einer Ukraine gehört.

Beim Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte die Ukraine, unter Ausnutzung des Zerfalls und des daraus entstandenen Chaos', 1991 ihre Unabhängigkeit. Nachdem sich der anfängliche Jubel und der Nebel der Versprechungen von Demokratie und Wohlstand verzogen hatte, sahen sich die Ukrainer, die nie selbst einen Staat führen mussten, der düsteren Realität der Staatsführung gegenüber. Bei dem Versuch, sich komplett von Russland zu lösen, scheiterte die Ukraine wirtschaftlich und politisch.

Die ukrainische Wirtschaft war in die Wirtschaft der Sowjetunion integriert und auf die Bedürfnisse der Sowjetunion ausgerichtet. Sie produzierte eine Vielzahl von Waren und Dienstleistungen, und obwohl die Produkte nach westlichen Maßstäben veraltet waren, waren sie zuverlässig und billig. Russland war der natürliche Absatzmarkt für die ukrainische Wirtschaft. Die Ukraine jedoch war entschlossen, der EU beizutreten, woran die EU zunächst nicht interessiert war, und in der Folge verlor die Ukraine den russischen Absatzmarkt. Daraufhin schrumpfte die ukrainische Wirtschaft dermaßen dramatisch, dass Kiew die Zukunft des Landes nicht mehr selber gestalten konnte. Die Ukraine geriet in die unglückliche Lage, finanzielle Unterstützung durch die USA und Westeuropa zu benötigen, um überleben zu können.

Um die Geldgeber zu beeindrucken, haben die ukrainischen Staatslenker versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass die Ukraine eine Mission zum Schutz der Demokratie habe. Bedauerlicherweise beschränkte sich das Bekenntnis zur Demokratie auf eine Grundsatzerklärung. Politisch unreif und unerfahren, hat das ukrainische Volk konsequent Staatsoberhäupter gewählt, die die Demokratie in erster Linie als Mittel zur eigenen Bereicherung verstanden. Tatsächlich wurde endemische Korruption zu einer grundlegenden Notwendigkeit, zu einer Voraussetzung für eine funktionierende Regierungsführung. Die hervorstechendsten Merkmale der Ukraine sind der Diebstahl von Wirtschaftshilfen und natürlichen Ressourcen.

Die Geschichte, die Geographie, der Zustand der Wirtschaft und die Qualität der staatlichen Institutionen bestimmen das Verhalten eines Landes auf internationaler Ebene. Der Ukraine, der es an strategischer Vision und Erfahrung in der Geopolitik mangelte, war die dem zugrunde liegende Realität nicht klar, als sie aus angeblichen Sicherheitsgründen auf eine NATO-Mitgliedschaft drängte. Was auch immer die Motivation war, die Ukraine hat nicht erkannt, dass die Frage von Krieg und Frieden das Produkt gegenseitiger Sicherheitsgarantien ist – die Sicherheit des einen erzeugt keine Unsicherheit für den anderen. Das Bestreben der Ukraine, der NATO beizutreten, ignorierte die dreißig Jahre lang wiederholt geäußerten Warnungen Russlands, dass die Osterweiterung der NATO eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellt.

Sogar die New York Times, bei Weitem kein Freund Putins, stellte kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine, in ihrem Leitartikel vom 9. Januar 2022, die Klugheit eines NATO-Beitritts der Ukraine infrage und gab zu, dass "Herr Putins Bedenken nicht völlig von der Hand zu weisen sind. Würde die Ukraine der NATO beitreten, hätte das Bündnis dann eine fast 2.000 Kilometer lange Landgrenze mit Russland, eine Situation, die keine Großmacht akzeptieren kann, egal wie oft und wie laut das atlantische Bündnis behauptet, rein defensiv zu sein". 

Ob politische Naivität, Rücksichtslosigkeit, unaufhörlicher Appetit auf finanzielle Hilfen aus dem Ausland oder alles zusammen, das beharrliche Beharren der Ukraine auf einer NATO-Mitgliedschaft, selbst angesichts einer drohenden russischen Invasion, hat einen Krieg ins Rollen gebracht, der leicht hätte vermieden werden können.

Es war ein Fehler von historischem Ausmaß.

Und während dieser gescheiterte Staat in seinen von der Sowjetunion gezeichneten Grenzen und verdorben durch Inkompetenz und Korruption in Blut und Zerstörung zusammenbricht, wächst die unheimliche Vorahnung, dass die Ukraine für Generationen Ödland bleiben wird. Wenn also die Ukrainer einen Staat verdienen, verdienen sie vielleicht tatsächlich den Staat, den sie jetzt bekommen werden.

Übersetzt aus dem Englischen.

Alexander G. Markowskij ist Senior Fellow am London Centre for Policy Research, einer konservativen Denkfabrik, die sich mit nationaler Sicherheit, Energie, Risikoanalyse und anderen Fragen der öffentlichen Ordnung befasst.

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